„Wenn ich drüber nachdenke…“

19. Oktober 2019

Ich treffe Martin immer zur selben Zeit am selben Ort: Um halb 12 in einem Kloster in Frankfurt, das gegen einen Betrag von 50 Cent ein reichhaltiges Frühstück für Obdachlose anbietet. In den paar Minuten bevor Martin auftaucht, um mir seine Geschichten zu erzählen, sitze ich im Innenhof des Klosters und betrachte die Menschen, die dort einkehren und beten.

Die meisten von ihnen sind ältere Leute, vielleicht Großeltern, die extra fürs Gebet hierher kommen. Andere kommen schwer bepackt mit Einkaufstaschen und Sonnenbrille von der Zeil her und knien sich hier auf dem Heimweg noch kurz vor der Maria-Statue nieder.

Ich selbst habe mit Religion wenig am Hut, klar, den Konfirmationsunterricht habe ich auch mitgemacht, aber danach wurde es mit meinen jährlichen Kirchenbesuchen immer weniger.

Hier im Kloster begegne ich zu Beginn meines Projekts Bruder Michael. Er zeigt mir die Einrichtung und die Arbeit, die hier die verschiedensten Menschen ehrenamtlich verrichten.

Und mir kommt der Begriff „Selbstlosigkeit“ in den Sinn.
Die Maria-Statue im Innenhof des Klosters – Martins und mein Treffpunkt

Wenn ich an Selbstlosigkeit denke entstehen in meinem Kopf immer biblische Bilder: Einem Armen ein Stück Brot geben; St. Martin, der seinen Mantel teilt und dem Bettler die Hälfte gibt, usw…

Als Kind dachte ich immer, Selbstlosigkeit hat immer etwas damit zu tun anderen zu helfen, oder zumindest auf andere zuzugehen! Mittlerweile meint Selbstlosigkeit für mich, das eigene Anspruchsdenken und die eigene Emotionalität bedingungslos für einen kleinen Moment aufgeben zu können, um in diesem Moment völlig losgelöst von seinen persönlichen Vorstellungen handeln zu können.

Selbstlos kann nur sein, wer vergisst, wer er ist.

Für mich geht es bei Selbstlosigkeit im ersten Schritt gar nicht so sehr um andere. Vielmehr findet eine selbstlose Handlung doch den Ursprung bei mir selbst!

Wenn ich im Reinen mit mir bin, und mir erlaube, mir blind zu vertrauen, erst dann ermögliche ich es mir, offen für andere zu sein! Denn dann vergesse ich, was mich emotional beschäftigt, und welche Aspekte einer Handlung ich unterbewusst auf mich beziehe:

Wenn ich an meine Gespräche mit Martin denke,…

…dann fiel es mir manchmal schwer, ihm Fragen zu stellen, weil ich das Fragenstellen auf mich und nicht auf ihn bezogen habe:

„Darf ich das fragen? Sage ich was Falsches? Bin ich überheblich? Setze ich mich über mein Gegenüber hinweg?“

Ich meine, ich bin doch der Student, der von seinen Eltern jeden Monat Geld kriegt und ein wundervolles Leben führen kann. Was erlaube ich mir hier eigentlich, dass ich einen Obdachlosen für mein Diplom ausschlachte?

Aber das sind nur Gedanken und Emotionen. So kann einem auch der eigene Anspruch, etwas Gutes zu tun, im Weg stehen:

„Tue ich das Richtige? Helfe ich hier grade?“

Eine wirklich selbstlose Geste passiert ohne einen eigenen Anspruch. Auch wenn dieser Anspruch lautet: Ich will anderen helfen!

Denn nur wenn es mir nicht darum geht, selbst unbedingt etwas für Andere zu tun, denke ich doch wirklich nur an andere und kein bisschen mehr an mich selbst ?!

Selbstlosigkeit kommt daher, dass man sich selbst vergessen kann und ohne einen Rückbezug zu sich selbst handelt. Wir machen uns einfach offen für andere, egal wen wir vor uns haben. Und zwar einfach dadurch, dass wir nicht über uns und die Konsequenzen unserer Handlungen für uns selbst nachdenken.

Wir sind ohne Selbst, ohne „Was kann ich alles tun und erreichen“-Denken, und daher auch ohne Fehler.

Ich für meinen Teil möchte nicht den Anspruch haben, selbstlos zu sein. Ich möchte einfach nur ein Projekt machen, bei dem ich möglichst selten daran denke, was das für mich bedeutet. Gar nicht so einfach in unserer Gesellschaft, die immer auf ei Ergebnis aus ist …

Und ich möchte die Stimmen vergessen, die behaupten, es gäbe irgendeine Grenze zwischen mir, dem Studenten, der jeden Monat Geld von seinen Eltern zugesteckt bekommt um einen Traum zu verfolgen und jemandem, der auf der Straße lebt und sein Geld damit verdient, sich mit einem Pappbecher auf die Straße zu setzen.

Denn diese Stimmen hören auf in mir nachzuhallen, wenn ich einfach mal kurz vergesse, wer ich bin.

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